Freitag, 13. September 2013

claude

es kam langsam der winter. draussen wurde es jedoch nicht ungemütlich. die touristen reisten ab und die stadt strahlte noch restsommerwärme aus. auf den strassen herrschte ein buntes treiben. auch im hotel. dolores hatte zwei neue mädchen unter ihrer obhut und verbrachte viel zeit mit dem anlernen. ich kümmerte mich jetzt um insgesamt drei stockwerke und scheuchte alle hin und her. die arbeit erstickte meine wünsche und meine träume. ich arbeitete wie ein esel, der vollbeladen versucht einen steilen berg hochzukommen. das kannte ich aus dem dorf. die tiere wurden fast totgeprügelt, in letzter minute schafften sie die last ans ziel zu bringen, auch wenn sie kurze zeit später drauf gingen. mein vater freute sich dann über die neue wurst, die kiloweise in jeder kammer unseres erbärmliches hauses hing und vor sich hin trocknete.
die gäste nahmen bald ein bild an, welches mich nicht mehr aus der fassung brachte. ich gewöhnte mich an deren unterschiedliche erscheinungsbilder, an ihre allüren, an ihre sonderwünsche, an ihre auswüchse, an ihre abreise, welche frühzeitig angedroht wurde, an ihre einkäufe, welche durch mehrere bedienstete in die gemächer getragen wurden, an den sex der frischverliebten im pool, an die langersehnten scheidungen der eheleute, welche theatralisch ausgelebt wurden,  wie auch die versöhnungsaufenthalte, welche so manche paare als letzte instanz vor dem weihnachtsfest einfliessen lassen wollten. kurzum, ich kannte sie alle. ich kannte die einsamen workaholics, die im zigarrendunstsitzenden einsamen schriftsteller, die auf koksunternehmungslustigen werbeleute, die investmentbanker, die dachten mit ihrem geld das gesamte hotel für einen abend zu besitzen, wie auch die durstigen hysterischen ehefrauen, welche von ihrem gatten nicht mehr beachtet wurden und in der stadt der dolce vita auf jagd gingen. mir entging nichts. und es war mir auch egal. ich war immun. jede neuerung fand die bestätigung, dass das leben hier besser war. besser war als damals. hier brachte das arbeiten mehr als das fanatische beten und heulen der frauen, als das primitive gequatsche und tabakgekaue der männer und eselsalamitrocknen wie damals auf dem dorf.
eines frühen morgens stand dolores vor mir. ich habe hier jemanden, der möchte was lernen. er soll in jeden winkel des hotels einblick bekommen. das ist claude, erklärte sie und lächelte. hinter ihr trat ein junger mann hervor. er war nicht älter als ich. aber grösser. aber nicht zu gross. seine augen tiefbraun. sein haar kurz. sommersprossen verteilten sich wild auf seiner nase und seinen wangen. er starrte mich an und reichte mir seine hand. claude, ...., ich freue mich, brachte er hervor. kühl nickte ich und drückte seine hand. sie war glatt. ich dachte dennoch nicht länger darüber nach. männer waren hier keine mangelware, ob bedienstete oder gäste. sie waren für mich anwesend, ohne dass ich mir mehr gedanken machen musste. ich wusste nicht mal mehr, wann mir ein mann das letzte mal richtig gefallen hat. kein zweifel, ich wusste es nicht. aber so bescheuert wie dolores grinste, erkannte ich, dass claude weder den männern verfallen war, noch ein triebtäter und auch kein idiot war, sonst hätte er es nicht in dieses haus geschafft.
so kam es, dass ich ihm alles zeigte. ich war erstaunt, claude war pünktlich, nicht begriffsstutzig und neugierig. er erinnerte mich stellenweise an mich selbst. zumal war er höflich und nicht aufdringlich. ich fragte nicht, woher er kam und er erzählte auch nichts über sich. er arbeitete eisern und beobachtete aus der ferne viele dinge, welche es ihm demnach erlaubten, nicht zu viele fragen zu stellen. ich war begeistert. männer waren in meiner phantasie träge, macholastig und meistens angeber. im dorf kraulten sie sich die eier und ließen sich bedienen und hatten für frauen kein wort übrig. ausser es ging um die fortpflanzung, denn nichts anderes war es für sie. da waren sie sogar mal nett, davor, aber nicht währendessen und schon gar nicht danach.
claude hatte eine weiche stimme, ohne dass er wie ein mädchen klang oder wie ein träumer. sein erscheinungsbild war gepflegt, er schien gebildet. ich fragte mich, weshalb er dieses programm im hotel abzog. konnte er sich das leisten? meine neugierde wurde gebremst, denn hier hatte ich gelernt, dass übermässige neugierde eins erreichte, und zwar kontraproduktiviät. also hörte ich auf, über claudes' hintergründe nachzudenken. er war lustig, gesellig, zuverlässig-  manchmal konnte ich mir ein lächeln nicht verkneifen. er verstand es, die gesamte mannschaft zum lachen zu bringen. im allgemeinen schien er beliebt bei den frauen. sogar bei den männern, egal, welchem ufer sie angehörten. ich mochte ihn. freute mich auf jeden neuen tag aufs neue mit ihm zusammenzuarbeiten. selbst abends im bett, dachte ich an die momente, egal wie sie ausfielen. claude war ein gewinn. und dolores behielt recht.
es war spät. ein langer, harter tag ging zu ende. ich saß alleine im aufenthaltsraum, füsse auf dem tisch und trank einen doppelten espresso. ich erwischte mich sogar dabei, dass ich eine zigarette rauchte. das kam nicht oft vor, aber das dorf lebte noch in mir, und dort rauchte ich wie ein schlot.
die türe ging langsam auf und claude schlüpfte herein. darf ich bleiben, fragte er mich leise und ich nickte. schnell nahm er sich einen stuhl und setzte sich neben mich. er fragte nach einer zigarette, welche ich ihm gab, feuer nahm er sich selbst, dann herrschte ruhe im raum. das kleine fenster zum hinterhof stand offen und ich konnte das zwitschern der spatzen hören. vielleicht waren es auch schwalben. vielleicht auch beides. ich war zu müde, um es zu entziffern. ich war nicht aufgeregt, wenn er in meiner nähe war. im gegenteil, er hatte was beruhigendes. das kannte ich allerdings nicht, was mich wiederum leicht beunruhigte. claude war ein milder schatten. wenn auch ein schöner. ja. er war schön. das musste ich zugeben. ich rauchte zu ende und wollte aufstehen. er hielt mich am arm fest. bleib, flüsterte er. ich sah ihn an. er hatte was in den augen, was ich nicht beschreiben konnte. es war kein flehen. es war auch keine macht. es war wohlwollen. ich blieb. wenn auch verdutzt. das kreischen der vögel nahm zu und ich trank den kalten rest des kaffees aus. zwischen uns war keine magie oder ähnliches. nein, es war angenehm. ohne jede spannung. ich blieb sitzen und verlor langsam das zeitgefühl.
ich wollte dir was sagen, vielmehr gestehen, sage er leise, sein blick fest auf das fenster gerichtet. ich wollte hier sein, um dir nahe zu sein, um dich, nimm es mir nicht übel, um dich fühlen zu können. das programm erlaubt maximal 6 wochen bei dolores. ich habe sie fast täglich bekniet und nun schon 10 wochen durchgeboxt. immer noch sah er aus dem fenster. doch ich, ich fühlte keine freude, keine erleichterung, keinen erfolg. ich wurde sehr nervös, fast sauer,  ich sah ihn an. er jedoch nicht mich. er rauchte zu ende und drückte dann das letzte leben der zigarette im aschenbecher tot. ich stand auf. ich merkte, wie sich meine eingeweihte mit aller macht gegen gefühle wehrten. wie meine gedanken sich wehrten, ganz zu schweigen vom herzen, welches mir bis zum kopf schlug. verdammte scheisse, dachte ich. hörte das nie auf. was war mit den menschen nur los? was sahen sie in mir? was wollten sie nur von mir? ich flüchtete hierher um zu arbeiten, um das bescheuerte geld zu verdienen, um auch endlich meine niedere herkunft zu vergessen, ich wollte nicht herkommen, um bewundert zu werden, um auf meine mögliche schönheit angesprochen zu werden, nicht um begehrt zu werden. ich wollte einfach nur entkommen und leben. was ist passiert? tag für tag sah ich leute, wie sie hier verkehrten, arbeiteten, sich trafen, sich liebten, all das sah ich. ich sah die unterschiedlichkeit der menschen. ich sah was schnell kam und wieder ging. was sollte also nun gefühl an dieser stelle. ich musste husten. tränen schossen mir in die augen. mit weit aufgerissenen augen sah ich claude an. meine blicke waren tödlich. das hoffte ich zumindest. was erzählst du mir da, knurrte ich. die wahrheit, und du kannst sie wohl nicht vertragen, gab er zu, aber ich meine es ernst. du bist nicht die erste frau in meinem leben. aber du hast das was andere definitiv nicht haben, seine stimme war fest, obwohl ich fühlen konnte, dass er innerlich bebte. du kannst dich dagegen wehren wie du willst, es ist eine tatsache, dass du mir gefällst und mich durcheinander bringst, dann stand er auf. fast fiel der stuhl um. er verliess den raum. ich konnte meine tränen nicht zurückhalten und weinte. das hatte ich sehr sehr lange nicht mehr.